Der Mann mit dem Bierbauch und der Schiebermütze

 

Ich trug meinen Kleiderschrank immer bei mir. Sie müssen wissen, dass das nicht wirklich ein Schrank war, es war eine Tüte. Ich trug also meine Kleidertüte immer bei mir, denn sie war mein Zuhause. Mein Wohnzimmer waren die Jackentaschen meines Parkas und mein Kopfkissen der harte Asphalt dieser unbarmherzigen Stadt. Nun, das ist etwas übertrieben. Im Sommer hatte ich mich natürlich nicht auf den Asphalt gelegt, sondern auf irgendeine Wiese, ich bin ja nicht blöd. Und im Winter bin ich dann oft in irgendwelche Notaufnahmen für Obdachlose gegangen.

 

Ich gehe also den Bahnsteig entlang, suche nach Pfandflaschen. Auf dem Gleis gegenüber singen ein paar Frauen. Sie singen schön, ich mag es, wenn Leute singen. Sie müssen wissen, meine Mutter war früher eine fantastische Sängerin. Als ich geboren wurde, hat sie allerdings nur noch mir gesungen. Sie hat wunderschön singen können. Es gab ein Lied, das hat sie mir immer zum Einschlafen gesungen. Ich kann mich aber nicht mehr daran erinnern, wie es hieß. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Als mein Vater starb, ging es ziemlich bergab. Sie müssen wissen, ich bin nicht dumm. Ich war in der Schule. Aber als mein Vater starb…

 

Mütter sollten nicht weinen. Und wenn sie es tuen, dann zerreißt es einem das Herz. Das können sie mir glauben. Denn meine Mutter hatte geweint, als mein Vater starb. Und es hat mir das Herz zerrissen. Wir beide haben viel geweint. Aber meine Mutter hat mehr geweint. Als ich mit dem Zeug anfing, da hat sie nicht mit mir geschimpft. Sie hat einfach nur geweint. Dann ging es bergab. Ich bin nicht dumm, glauben sie mir das. Aber damals war ich dumm.

 

Ich fing an zu weinen auf diesem Bahnsteig, also ging ich hinaus. Ich hatte meine Mutter lange nicht mehr gesehen. Sie meinte, dass sie umgezogen ist. Aber ich habe vergessen wohin. Doch ihre Nummer ist gleich. Ihre Nummer habe ich immer bei mir. Sie ist geschrieben auf einem kleinen Zettel in meinem Wohnzimmer.

Ich habe schon sehr lange mehr kein Handy besessen. Also gehe ich zu einer Telefonzelle. Ich stecke die Hand in mein Wohnzimmer und greife in die Tasche, in der mein Zettel liegt. Doch ich finde ihn nicht. Ich suche ihn noch etwas länger, dann werde ich panisch. Meine Hände werden ganz schnell und sie suchen alles ab. Meinen Kleiderschrank, meine Abstellkammer, mein Schlafzimmer und nochmals mein Wohnzimmer. Doch ich finde ihn nicht. Ich werde wahnsinnig. Man hatte ihn mir geklaut. Man hat mir meine Mutter geklaut. Ich schreie um mich. Denn sie lachen mich alle aus. Denn sie haben meinen Zettel geklaut.

 

Und dann, und sie müssen wissen, das tue ich nicht oft, dann breche ich zusammen. Ich weine und weine. Und, da bin ich jetzt ganz ehrlich zu ihnen, ich schreie auch. Und dabei weiß ich gar nicht mehr was. Aber die Leute lachten mich aus. Erst nehmen sie mir meine Mutter und dann lachen sie mich aus. Doch ich habe keine Kraft mehr. Also bleibe ich am Boden liegen, da wo ich hingehöre. So denken die Leute doch, sie lachen und sie spucken und niemand hilft einem hoch.

 

Sie müssen wissen, ich bin nicht besonders wehleidig, ich bin das Leid ja gewohnt. Aber an diesem Tag, da ging es mir wirklich nicht gut. Und deswegen ist der nächste Teil dieser Geschichte passiert. Ich bin nun gar nicht froh, das erzählen zu müssen. Aber wenn man etwas anfängt, dann muss man es zu Ende bringen. Es gibt natürlich Ausnahmen. Selbstmord zum Beispiel. Sie müssen wissen, ich bin nun doch froh, dass es nicht geklappt hat.

 

Ich stehe nun also an der Brücke, und in meinem Selbstmitleid stürze ich mich herunter. Sie müssen wissen, ich bin nicht dumm. Aber sie haben sich auch noch nie umgebracht. Das ist garnicht so leicht. Ich habe mich stark verletzt. Aber gestorben bin ich nicht. Die Ärzte meinten, es war Glück im Unglück. Sie haben mir geholfen, meine Mutter zu erreichen. Ich kann ihnen sagen, das ist ein peinliches Gespräch. Da sieht man sich zwei, drei Jahre nicht, und dann muss die eigene Mutter erfahren, dass man sich umbringen wollte. Sie hatte bitterlich geweint, und es hat mir das Herz zerrissen. Aber vor allem habe ich mich geschämt. Sie müssen wissen, ich schäme mich nicht oft. Das ist als Obdachloser unpraktisch. Aber vor seiner eigenen Mutter kann man eben doch nichts verbergen.

 

 

 

 

4.November.22